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 F R A G E   &   A N T W O R T

Atemtypen im Musikunterricht

Bipolare Atemtypen sind ein kontroverses Thema unter Musikern und Musiklehrern.

Die einen schwören darauf, andere lehnen es ab, sich damit zu befassen.

 

Cornelia Ludwig-Fröschl, als Musik- und Yogalehrerin legen Sie in ihrem Unterricht ausdrücklichen Wert auf die sogenannten bipolaren Atemtypen. Was sind denn Atemtypen?

Die bipolaren Atemtypen sind eine Entdeckung des Musikers und Geigers Erich Wilk (1915-2000). Als Geigenschüler fand er heraus, dass er keinen schönen Klang erzeugen konnte, wenn er die Körperhaltung seines Lehrers nachahmte. Wenn er jedoch eine völlig andere Haltung einnahm, konnte er die gleiche Tonqualität hervorrufen. Später beobachtete er, dass Menschen generell zwei unterschiedliche Haltungen und Bewegungen haben und dass das mit einer grundsätzlich unterschiedlichen Art zu atmen zusammenhängt. Seine Erkenntnis der typenpolaren Atem-Konstitution wurde später von der Kinderärztin Charlotte Hagena weiterentwickelt. Demnach gibt es Menschen, die aktiv einatmen und passiv ausatmen. Sie werden Einatmer genannt. Menschen hingegen, die aktiv ausatmen und passiv einatmen, werden Ausatmer genannt.

Wozu brauchen wir das Wissen um den Atemtyp?

Der Atemtyp bestimmt unser Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen und alle Bewegungen. Er ist uns angeboren und wirkt sich auf alle Tätigkeiten des Leben aus: Wie wir uns bewegen, wie wir Kraft aufwenden oder uns erholen im Schlaf. Im normalen Leben achten wir nicht darauf. Beim Sport, in der Musik und beim Singen gehen die Leistungsanforderungen an den Körper weit über das Alltagsspektrum hinaus.  Der Atem beeinflußt  besonders – natürlich!-  die Stimme (und die Stimmung). Deshalb werden die Erkenntnisse Wilks beispielsweise in der Gesangsausbildung an Hochschulen angewendet. Mir fällt dazu konkret Robert Altnöder an der Hochschule für Musik und Theater in München ein, der wie ich zusätzlich Yoga unterrichtet. Nahezu jede Sängerin weiß heutzutage, ob sie lunare Einatmerin oder solarer Ausatem-Typ ist und kann das bewusst einsetzen. Leider scheint es so, als ob diese Erkenntnisse zu wenig bei der Ausbildung von Instrumentalistinnen berücksichtigt würden. Obwohl die Körperhaltung ein entscheidender Faktor für den Klang und damit für den Ausdruck ist! Vom Wohlbefinden gar nicht erst zu reden, denn jede/r fürchtet die sogenannten Musiker-Krankheiten. Dabei könnte man die weitgehend vermeiden. Da ist Handlungsbedarf!

Warum werden die bipolaren Atemtypen als solar und lunar bezeichnet?

Erich Wilk hat einen Zusammenhang mit dem Stand von Sonne und Mond zum Zeitpunkt der Geburt festgestellt. Das ist ähnlich wie bei den Gezeiten. Die Sonne übt einen verengenden, vertikal ziehenden Einfluss aus. Im Atemprozess entspricht das dem „solaren Atemtyp“. Der Mondeinfluß hingegen ist horizontal dehnend. Das entspricht dem „lunaren Atemtyp“. Wenn also am Tag der Geburt eines Babys der Sonnenstand um mindestens zehn Prozent höher ist als der Mondstand, wird ein/ solare/r Ausatmer/in geboren. Bei Vollmond hingegen werden fast nur lunare Typen geboren. Hier steht der Mond bei 100 Prozent.

Was für ein Atemtyp entsteht, wenn Sonnenstand und Mondstand fast gleich sind?

Offensichtlich entscheidet sich der Organismus für einen der beiden Atemtypen. Welcher das ist, kann man durch geeignete Tests herausfinden. Besonders schön kann man so eine Atemtyp-Bestimmung in den Internet-Videos des Taiji-Meisters Frieder Anders verfolgen. Er führt eindrucksvoll vor Augen, wie ein Mensch, der nicht gemäß seinem Atemtyp auf der Erde steht, durch einen kleinen Schubs (ein kurzes Antippen) das Gleichgewicht verliert. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir in unserer Kraft sind, wenn wir uns unserem Atemtyp gemäß bewegen. Das ist die persönliche Grundvoraussetzung für die musikalische Ausdrucks-Freiheit . 

Hat das Sonne-Mond-Prinzip etwas mit den Sternzeichen zu tun?

Nein, das ist absolut kein esoterisches Thema. Vielmehr gilt: Die lunaren Menschen (Dehnungstypen) atmen brustkorbbetont und aktiv ein. Dabei wird der Brustkorb weit und hebt sich. Nach einer kurzen Atempause strömt die Luft passiv und kontinuierlich aus. Man kann sich das ähnlich vorstellen wie bei einem Luftballon. Man muss ihn aktiv aufblasen, um ihn zu füllen. Anschließend strömt die Luft von selber wieder aus, die Spannung läßt nach. Das ist das Prinzip des lunaren Atemtyps, auch Einatmer genannt.

 Gegenspieler ist die/der solare Ausatmer/in. Anders als beim Dehnungstyp bleibt der Brustkorb des solaren Typs entspannt. Beim aktiven Ausatmen senkt sich das Brustbein sogar etwas nach innen. Dabei zieht sich die Zwischenrippenmuskulatur zusammen (Verengungsprinzip). Nach einer kurzen Atempause lockert sich die Bauch- bzw. Flankenmuskulatur und die Luft strömt von selber ein.  Ausatmer/innen werden demnach passiv mit Luft gefüllt; sie bekommen die Luft geradezu geschenkt. Das Prinzip ist ähnlich wie bei einem Blasebalg: Um die Luft herauszupressen, muss man draufdrücken. Wenn man den Druck löst, füllt sich der Blasebalg wieder.

Das sind extreme Gegensätze!

Genau! Sogar so extrem, dass ein aktive Einatmer/innen in keiner Weise nachvollziehen können, wie es wäre, aktive/r Ausatmer/in zu sein. Und umgekehrt. Lunare Typen kommen erst durch Dehnung und Streckung in den Raum hinein so richtig in ihre Kraft. Solare, Ausatmende geben ihr Gewicht ab und werden im Gegenzug aufgerichtet. Unterschiedlicher geht es nicht. Der Atemtyp bestimmt sämtliche Lebensfunktionen wie Kreislauf, Stoffwechsel, Motorik, Sinneswahrnehmung und Gehirn. Natürlich gibt es mehrere Einflussfaktoren, aber der Atemtyp ist die Basis für die Körperhaltung, das Körperbewusstsein jedes Menschen. Das ist entscheidend beim Musizieren und im Yoga . Als Musik- und Yogalehrerin komme ich hier gleich von zwei Seiten.

 Wie haben Sie von den Atemtypen erfahren?

In der Buchhandlung waren mir zwei Bücher mehrmals aufgefallen, bis ich sie eines Tages kaufte. Das eine heißt "Sonne, Mond und Stimme", von Romeo Alavi Kia und Renate Schulze-Schindler. Da geht es um Musik, speziell um Haltung und Atmung beim Singen. Das andere Buch heißt "Atemtypen im Yoga" und wurde von Margarete Seyd und Anna Trökes als Fachbuch für Yogalehrende geschrieben.

 Beide Bücher haben bei mir einen Paradigmenwechsel bewirkt. Offensichtlich verkörperten meine früheren Lehrer sowohl an den Instrumenten als auch im Yoga jeweils den anderen Atemtyp. Beispielsweise hatte ich mir für mein Cellospiel einen Stuhl gebaut, der wie ein Keilkissen nach vorne geneigt ist. So konnte ich mich beim Spielen leicht nach vorne neigen und Gewicht über die Arme nach unten abgeben wie der berühmte Cellist Mstislav Rostropovich. Mein erster Cellolehrer war mit dem Stuhl überhaupt nicht einverstanden. Ich sollte mich möglichst anlehnen und das Instrument fast liegend spielen. Ich fand einen Kompromiss, den mein Lehrer billigte, setzte aber das Cello zu hoch am Körper an und musste dabei deutlich mehr Kraft aufwenden beim Spielen. Über eine gewisse Grenze technischer Fertigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten kam ich nicht hinaus. Ähnliche Schwierigkeiten erlebte ich beim Gesangsunterricht, denn mein Lehrer empfahl mir, nach dem Einatmen die Luft möglichst lange anzuhalten. Ich sollte damit eine Luftreserve im Brustkorb bilden, bis mein Einsatz käme und dann singen. Heute weiß ich, dass das für meinen (solaren) Atemtyp kontraproduktiv ist. Damals hielt ich mich für unfähig.

Während meiner Yogalehrer-Ausbildung erduldete ich zwei Jahre lang, dass mir in der Sitzposition ein Knie an den Rücken gelegt und meine Schulterblätter nach hinten gezogen wurden. Die so erzeugte Anspannung im Brustkorb erschwerte mir das längere Sitzen enorm. Auch einzelne Stellungen durfte ich nicht gemäß meinem eigenen Körperempfinden ausführen, so dass sich mich unsicher und angestrengt darin fühlte. Am schlimmsten empfand ich Stellungen, bei denen ich den Kopf in den Nacken legen musste. Am Ende der Ausbildung begab ich mich mit einem Prolaps in der HWS in physiotherapeutische Behandlung.

Aus meinem Leidensdruck heraus empfand ich die beiden Bücher als eine Offenbarung. Anhand der Tabellen in den Büchern errechnete ich meinen Typ und konnte nur bestätigen, was ich über meinen Atemtyp las. Ich fühlte mich schlagartig aus jahrelangen Unterrichts-Dogmen befreit. Nachdem ich den Cellisten Ludwig Frankmar aus Berlin hier in der Augsburger Moritzkirche erlebt hatte, veränderte ich noch am selben Abend meine Spielhaltung am Cello. Meine Flötenhaltung hatte ich schon zuvor umgestellt und in einem Atemtypen-Workshop bei den bekannten Konzertflötistinnen Britta Roscher (Ausatmerin) und Gabi Fellner (Einatmerin) verfeinert. Inzwischen spiele ich leicht und gelöst auf meinen Instrumenten. Heute kann ich frei singen, frei spielen, frei interpretieren und ich atme und bewege mich beim Yoga, so wie es mir, beziehungsweise meinem Typ entspricht. Die mir gemäße Stellung der Beine, des Rumpfes, der Arme und Hände beeinflusst mein Wohlbefinden immens.

Wie kann man bei Instrumentalisten den jeweiligen Atemtyp erkennen?

Romeo Alavi Kia und Renate Schulze-Schindler nennen Beispiele in ihrem Buch "Sonne, Mond und Stimme": Der Geiger Jascha Heifetz spielt aufgerichtet mit hoch erhobenem Arm, den Kopf in den Nacken zurückgelegt, tänzelnd beim Spielen. Anne Sophie Mutter hingegen steht auf hohen Absätzen, was nur Ausatmern wirklich liegt, legt den Kopf seitlich und spielt die Geige vertikal nach unten. Das zeigt, dass der musikalische Ausdruck je nach Atemtyp anders vollzogen wird. Man spricht vom Dynamiker beim lunaren Typen und vom Statiker beim Solaren. Das ist meist auch zu beobachten. Man vergleiche zum Beispiel die dynamischen Bewegungen des Flötisten Emanuel Pahud (Einatmer) mit den ruhigen von James Galway (Ausatmer). Das sind riesige Unterschiede.

Könnten die Haltungen der beiden nicht doch etwas Individuelles sein?

Es würde nichts bringen, einen lunaren Dynamiker auf Dauer zu einem Ballenstand mit lockeren Knien zu zwingen. Oder einen Solaren aufzufordern, er solle passend zu einer bewegten Musik mehr herumlaufen und dynamischer agieren. Denn die Klangentfaltung hängt entscheidend von der zum Typ passenden Körperaktion ab. Die Autoren Kia und Schulze-Schindler zeigen einige repräsentative Beispiele auf, berichten von eigenen Erfahrungen aus Seminaren zu dem Thema. Kia zweifelte anfangs selbst am Einfluss des Atemtyps auf die Stimmbildung. Viele Sänger denken, dass der Klang der Stimme vor allem von der Kehle abhängt. Aber Kia musste feststellen, dass ein Teil seiner Schüler, die bei ihm keinen großen Erfolg verbucht hatten, unter der Anleitung von Renate Schulze-Schindler fast unmittelbar einen unvermuteten Klang entfalteten.

Demnach gibt es allgemeine Regeln für die Haltung der Atemtypen beim Musizieren?

Kia und Schulze-Schindler haben einige genannt. Allgemein läßt sich sagen: Ein lunarer Einatmer spielt eine Flöte besser mit gestreckten, sogar gebeugten Handgelenken. Ein schönes Beispiel dafür liefert Emanuel Pahud, im Internet zu verfolgen. Der berühmte Flötist und Flötenbauer Johann Joachim Quantz (geb. 30.Januar 1697) war zum Beispiel lunarer Einatmer. Daher sind nicht alle seiner "Anweisungen, die Flöte traversiere zu spielen" für Ausatmer geeignet.

Der solare Ausatmer steht zunächst auf dem linken Fuß, spielt nach vorne unten, entspannter Oberkörper, gut gehobene Arme, nach hinten geknickte Handgelenke, expressive Gesichtsmimik. Meist bewegt er das Instrument mehr als seinen eigenen Körper.

Am Klavier sitzt der Solare aufrecht vor den Sitzbeinhöckern, Nacken lang, Brustbein entspannt.

Der lunare Typ kann weiter entfernt von der Tastatur sitzen, Unterschenkel nach vorne etwas ausgestreckt, oft mir runderem Rücken, an den Luftraum hinter ihm angelehnt. Er kann auch den Kopf leicht ekstatisch in den Nacken legen. Entsprechend sind die Noten höher positioniert. Mit gebeugten Handgelenken und gestreckten Fingern spielt er müheloser und virtuoser. Denn auch die Art, wie Solare und Lunare ihre Finger heben und senken ist unterschiedlich. Meine Schüler sind oft verblüfft, dass durch kleine Veränderungen der Klang so unglaublich viel schöner wird. Doch trotz der Atemtypen bleibt eine individuelle Möglichkeit, zu experimentieren, um den zum Stück passenden Klang zu finden.

         Wenn das Konzept der Atemtypen in der Praxis so erfolgreich ist, warum ist das Thema dann so kontrovers?

Ich glaube, dass das Wissen zu wenig verbreitet ist. Sowohl im instrumentalen Musikstudium als auch in der Yogalehrer-Ausbildung wird es selten oder nur am Rand vermittelt. In der Regel orientiert ein Lehrer seine Anweisungen zu Instrumentalspiel und Atemtechnik an der ihm zugänglichen Überlieferung und (unbewusst) am eigenen Typ. Unbeabsichtigt nötigen viele Lehrer ungefähr die Hälfte ihrer Schüler zu unnatürlichen Stress-Haltungen. Ein weiterer Grund für Zweifel an der Funktionsweise der Atemtypen ist, dass es einige Menschen ablehnen, sich kategorisieren zu lassen. Aus welchen Gründen auch immer, sie fühlen sich eingeengt von der Vorstellung, einem bestimmten Atemtyp angehören zu sollen oder diesen gar zu vermitteln. Meiner Erfahrung nach fühlen sich Einatmer öfter eingeschränkt als Ausatmer. Zur Atemerfahrung des luaner Typs gehören nämlich Weite und Raum. Einigen Menschen wurden durch jahrelange Erziehung bestimmte Haltungen des eigenen Atemtyps verwässert oder sogar abtrainiert. Wenn die eigene Mutter zum Beispiel den gegenteiligen Atemtyp hat, kann es schwierig werden, denn ein Kind ahmt zunächst die Haltung der Mutter nach. Haltung und Bewegung, die über Jahre eingeübt, also regelrecht erworben sind, werden als Teil der eigenen Persönlichkeit empfunden. Die gibt man im Unterricht nicht ohne weiteres auf. Bei kleineren Kindern sehe ich allerdings kein Problem, sie verhalten sich im Normalfall ohnehin ihrem Atemtyp entsprechend.

Das Haupthindernis vermute ich allerdings darin, dass es für Unterrichtende ziemlich aufwendig ist, sich mit den Details der beiden Atemtypen zu befassen. Es bedeutet, viele Fakten durchzuarbeiten und bereit zu sein, das Gelernte an sich selbst und mit anderen zu erproben. Ich habe fast zwei Jahre dafür gebraucht, das Konzept der Atemtypen im Musik- und Yogaunterricht erfolgreich umsetzen zu können. Dafür freue ich mich täglich, die Klangentfaltung bei meinen Schülern fördern und erleben zu können.

 

Weiterführende Literatur:

Romeo Kia / Renate Schulze- Schindler: "Sonne, Mond und Stimme: Atemtypen in der Stimmentfaltung"

Anna Trökes / Margarete Seyd: "Yoga und Atemtypen: Fachbuch für eine individuelle Yogapraxis für Lehrende und Lernende"

Brunhilde Holderbach, Anzy Heidrun Holderbach: "Musik & Atemtypen, Handbuch entwickelt aus der Erfahrungswelt der Blockflöte"

Brigitta Seidler-Winkler: "Im Atemholen sind zweierlei Gnaden": Terlusollogie® und Stimme

Christian Hagena: "Terlusollogie, durch typgerechtes Atmen zu mehr Körpergefühl und Gesundheit"

Dr. Rosina Sonnenschmidt: "Das Praxisbuch der lunaren und solaren Atemenergetik",

Anna Trökes / Margarete Seyd: "Yoga und Atemtypen: Fachbuch für eine individuelle Yogapraxis für Lehrende und Lernende"

Frieder Anders und Judith Hechler: "Innere Kraft durch Atemtyp Qigong: Gesund durch richtiges Atmen"

Frieder Anders: "Taiji, Atemenergetik und Biomechanik. Der Weg zur Inneren und Äußeren Technik"